Seit dem vergangenen Sommer strömen Millionen Menschen auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Gewalt und Not aus dem Nahen und Mittleren Osten, aber auch aus Afrika in die wohlhabenden Staaten Europas. Die Aufnahme oder Abwehr der Flüchtlinge ist zu einem gesellschaftlichen und politischen Sprengsatz in Deutschland, aber auch für den europäischen Zusammenhalt geworden. Dabei ist die Migration oft nur vordergründig die Ursache dieser Verwerfungen – tatsächlich bringt sie Probleme zum Vorschein, die schon seit längerem geschwelt haben.
Die Flüchtlingspolitik ist in mehrfacher Hinsicht Reflex einer Krise der Demokratie: Sie verstärkt das Unbehagen gegenüber dem politischen System und einer "politischen Klasse", die die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vermeintlich nicht mehr ernst nimmt. Sie befördert den Zulauf zu neuen Bewegungen und politischen Parteien, die teils als populistisch, teils als nationalkonservativ und in jedem Fall als modernisierungsängstlich beschrieben werden können. Sie lässt die Fragilität einer Europäischen Union offen zutage treten, in welcher ein zunehmender Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität von Bürgern wie von Regierungen nicht mehr gewünscht wird.
Aber es gibt auch Gegenkräfte, etwa in der Mobilisierung der Zivilgesellschaft bei der Unterstützung der neu ankommenden Flüchtlinge.
Der Vortrag fragt nach solchen Wechselwirkungen der aktuellen Migrationskrise mit tieferen Problemlagen der deutschen und der europäischen Demokratie und kommt zu dem Ergebnis: Die Flüchtlinge verunsichern uns, aber vor allem halten sie unserer eigenen Verunsicherung einen Spiegel vor.
Prof. Dr. Paul Nolte, Jg. 1963, lehrt seit 2005 Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Nach Promotion (1993) und Habilitation (1999) an der Universität Bielefeld war er von 2001 bis 2005 Professor an der Jacobs University Bremen. 1993/94 forschte er als German Kennedy Memorial Fellow an der Harvard University, 1998/99 am Wissenschaftskolleg zu Berlin und 2012/13 am Historischen Kolleg in München.
2010/11 lehrte er an der University of North Carolina in Chapel Hill.
Seit 2009 ist er Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und seit 2015 Berufenes Mitglied der 12. Synode der EKD, und seit 2016 Sprecher des Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin.
Zum Thema des Vortrags erschien 2012 das Buch "Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart" sowie 2015 "Demokratie – die 101 wichtigsten Fragen (beide im Verlag C.H. Beck, München).
In zahlreichen Artikeln und Interviews der letzten Monate hat Paul Nolte sich intensiv mit dem neuen Populismus in Deutschland, Europa und den USA beschäftigt.
Der Eintritt zum öffentlichen Vortrag ist frei.