Kaum etwas wird innerhalb der akademischen Öffentlichkeit so sehr beklagt wie die Kluft zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften. Entsprechend gibt es zahlreiche Veranstaltungen, auf denen in der einen oder anderen Weise versucht wird, diese Kluft zu überbrücken oder zumindest die tiefe Sprachlosigkeit zwischen diesen beiden Welten abzubauen.
Diese Bemühungen treffen jedoch auf vielfältige Schwierigkeiten und Widerstände. Besonders schwierig wird es, wenn es dabei um Themen geht, die unsere menschliche Existenz, die Beweggründe menschlichen Verhaltens, Verantwortung und Ethik betreffen. Hier stoßen die Meinungen der verschiedenen Wissenschaftslager nach wie vor kompromisslos aufeinander. Als besonders bedrohlich werden in der akademischen Öffentlichkeit die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung empfunden. Man hat sich gerade erst daran gewöhnt, dass die Neurowissenschaftler sich intensiv mit Geist, Bewusstsein und neuerdings auch mit dem Unbewussten beschäftigen, was traditionell Themen der Geisteswissenschaften (einschließlich einer sich geisteswissenschaftlich verstehenden Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse) sind, da äußern sich Hirnforscher nun auch prononciert zum Thema der Willensfreiheit und der persönlichen Verantwortlichkeit des Menschen und rütteln damit - scheinbar oder tatsächlich - an den Grundfesten unserer rechtsstaatlichen Ordnung.
In zahlreichen wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Abhandlungen wurde der Triumph der modernen Naturwissenschaften, vor allem der Physik, der Chemie und der Biologie bzw. Physiologie, erörtert. Dieser Triumph wurde in der Physik, Chemie und Physiologie durch eine Mathematisierung sowie durch eine strenge Methodologie der experimentellen Arbeit unter genau kontrollierten Anfangs- und Randbedingungen erreicht. Ziel war und ist es, in den verschiedenen Gebieten spezielle Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und dann im zweiten Schritt zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Obwohl dieses Reduktionismusprogramm keineswegs überall erfolgreich war und ist (z.B. scheitert es bisher bei der Vereinigung der Mikro- und Makrophysik), so gilt es doch als großer Erfolg dieses Programms zeigen zu können, dass dieselben physikalisch-chemischen Gesetze in der unbelebten und der belebten Natur herrschen bis hin zu den Vorgängen an den Nervenzellen in unserem Gehirn.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde aber auch klar, dass trotz dieser beeindruckenden Erfolge der Natur- und Biowissenschaften den Bereich dessen, was nach damaliger und auch noch heute allgemein akzeptierter Meinung das wirklich Menschliche ausmacht, nämlich Geist, Bewusstsein, Kreativität, Kultur, Wissenschaft, Kunst und Moral, mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erklärt werden kann. Es ist deshalb typisch, dass im ausgehenden 19. und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert die größten Geister der theoretischen und experimentellen Naturwissenschaften wie Herrmann von Helmholtz, Emil Dubois-Reymond, Ernst Mach, Wilhelm Wundt, Max Planck und Albert Einstein keine Möglichkeit sahen, eine wirkliche Brücke zwischen den beiden Wissenschaftslagern zu schlagen, und deshalb in Hinblick auf das Geistige Dualisten oder Agnostiker waren. Man konnte zwar einfache Sinneswahrnehmungen mit empirisch-experimentellen Methoden studieren, aber das wirklich Geistige blieb den Naturwissenschaften grundlegend verschlossen.
Insofern trafen die Bemühungen Ernst Diltheys und anderer Personen zu dieser Zeit, die Geisteswissenschaften als einen eigenständigen Wissenschaftsbereich zu etablieren, auf keinerlei Widerstand. Es bildete sich die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften heraus, die für die kontinentaleuropäischen Universitäten auch heute noch typisch ist. Danach haben sich die Naturwissenschaften um das Allgemein-Gesetzmäßige, das Unwandelbare, in den Biowissenschaften um das Art- und Gattungsspezifische zu kümmern, die Geisteswissenschaften hingegen um die Produkte des menschlichen Geistes, das historisch Gewordene, das Einmalig-Individuelle, das Kreative. Hieraus resultierte der berühmt-berüchtigte Gegensatz zwischen nomologischen und hermeneutischen Wissenschaften, zwischen gesetzmäßigem Erklären und mehr oder weniger intuitivem Verstehen.
Diese Trennung der Wissenschaft in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften waren nicht nur eine wichtige Rettungsmaßnahme weiter Bereiche der akademischen Welt vor dem drohenden Zugriff der Natur- und Ingenieurswissenschaften, sondern sie ist auch tief verwurzelt in unserem menschlichen Selbstverständnis. Wir erleben unsere geistigen Zustände und damit auch uns selbst als grundverschieden von den Dingen und Vorgängen in der Welt "da draußen". Kreisende Planeten und ein fallender Stein erscheinen als etwas völlig anderes als unsere Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und Willensakte. Während wir Planeten und Steine verorten, beschreiben und mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen können, scheinen Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Wünsche und Motive keinen oder keinen genauen Ort zu haben, sie sind nur schwer beschreibbar und - so scheint es - experimentell überhaupt nicht untersuchbar, da sie offensichtlich nicht den Naturgesetzen unterliegen. Die Forderung nach einer Physik oder Physiologie des Geistes erscheint lächerlich. Wenn es Gesetze des Geistes gibt, dann haben diese mit den Gesetzen der Natur nichts zu tun - beide sind wesensverschieden.
Noch dramatischer sieht die Ablehnung aus, wenn Versuche gemacht werden sollen, Phänomene des Gesellschaftlichen, mit denen sich die Sozialwissenschaften im weitesten Sinne beschäftigen, mithilfe natur- und biowissenschaftlicher Erkenntnisse und Gesetze erklären zu wollen. Ähnlich wie bei den Geisteswissenschaften ist es das explizite Dogma der heutigen Sozialwissenschaften - der kontinentalen wie der angelsächsischen -, dass die biologische und die gesellschaftliche Natur des Menschen zwei völlig verschiedene Wesensbereiche darstellen. Es gilt: Was der Mensch ist, wie er denkt, fühlt und handelt, ist bzw. tut er nur aus seiner gesellschaftlichen, nicht aus seiner biologischen Natur heraus. Dass der Mensch ein Säugetier ist, einen Körper und auch ein Gehirn mit bestimmten Funktionen hat, ist natürlich nicht zu leugnen, ist aber nach Ansicht der meisten Sozialwissenschaftler für das Verständnis des Eigentlich-Menschlichen völlig irrelevant. Sprache - so das gängige sozialwissenschaftliche Glaubensbekenntnis - ist ohne Gesellschaft nicht möglich, und ohne Sprache gibt es kein Bewusstsein, kein Denken und keine Intelligenz. Ebenso sind die auffälligen Unterschiede im Denken, Fühlen und Handeln der beiden Geschlechter ein reines Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse. Wer etwas anderes behauptet, verhält sich politisch inkorrekt.
Lange Zeit konzentrierte sich innerhalb der Neurowissenschaften die Forschung auf relativ einfache und weltanschaulich unverdächtige Prozesse und Funktionen der Wahrnehmung und der Motorik. Erst später und sehr zögernd - und unter dem Einfluss der "kognitiven Wende" in der Psychologie sowie der Bedürfnisse der klinischen Psychologie - wandte man sich so genannten höheren kognitiven und noch später emotionalen Funktionen zu. Große Fortschritte in kognitions- und emotionspsychologischen Methoden, der Elektrophysiologie und vor allem der funktionellen Bildgebung und neuerdings Untersuchungen an Versuchstieren (v.a. Ratten und Makakenaffen) und menschlichen Versuchspersonen mit möglichst denselben Versuchsparadigmen und experimentellen Bedingungen (z.B. fMRI, EEG) haben aber dazu geführt, dass die Hirnforschung heute in Phänomenbereiche eindringt, die traditionell der Philosophie, der Psychologie und den anderen Geisteswissenschaften vorbehalten waren. Hierzu zählen Untersuchungen von Bewusstseinszuständen, bewusstem und unbewusstem Wahrnehmen und Lernen, Gedächtnis, Erinnerung und Vorstellung, Sprache, Intelligenz, Kreativität, Handlungsplanung und Handlungskontrolle und neuerdings auch moralisch-ethische und sogar religiöse Vorstellungen. Ich möchte hierfür nur einige Beispiele nennen.
Mit elektrophysiologischen und bildgebenden Methoden lässt sich nachweisen, dass sich in bestimmten Regionen des Gehirns die Aktivität von Neuronenverbänden stark erhöht, wenn sich eine Versuchsperson auf etwas Bestimmtes konzentriert und damit ein verstärktes Aufmerksamkeitsbewusstsein zeigt. Diese Erhöhung ist aufgabenspezifisch, was bedeutet: Wenn es sich um einen visuellen Vorgang, z.B. ein bewegtes oder sonst wie auffälliges Objekt handelt, dann ist der Übergangsbereich zwischen Hinterhaupts-, Scheitel- und Schläfenlappen stärker aktiviert; wenn es sich um eine Melodie handelt, dann ist der rechte obere Schläfenlappen betroffen; wenn es sich um das Verstehen eines Satzes handelt, dann sind das Broca- und das Wernicke-Sprachzentrum in der linken Großhirnrinde aktiv. Geht es um Problemlösen, dann findet sich eine besondere Aktivierung im Stirnhirn; wenn die Versuchsperson ein drohendes Gesicht wahrnimmt, dann sind der Übergangsbereich zwischen dem rechten Hinterhauptslappen und Schläfenlappen betroffen sowie die Amygdala und der insuläre Cortex.
Bemerkenswerterweise geht die jeweilige Hirnaktivierung in dem Maße zurück, in dem die bewusste Aufmerksamkeit zurück geht, wenn uns zum Beispiel ein Objekt oder Vorgang zunehmend bekannt wird, wenn wir einen Satz schon vielfach gehört haben, wenn das Bewältigen eines Problems zur Routine wird oder wir uns an das drohende Gesicht gewöhnt haben. Damit geht auch einher, dass wir in solchen Fällen die Dinge bzw. das, was wir tun, gar nicht mehr recht wahrnehmen, weil sie zur Routine geworden sind. Das Aufmerksamkeitsbewusstsein, das zur Bewältigung neuer, komplexer Situationen eingesetzt wird, hat also eine genaue hirnphysiologische Entsprechung ebenso wie sein Nachlassen, sobald die Routine einsetzt. Es ist inzwischen sogar gelungen, Unterschiede in der Aktivität dieser Zentren nachzuweisen, wenn eine Versuchsperson felsenfest davon überzeugt ist, ein Objekt oder Gesicht schon einmal gesehen zu haben, oder ob sie eher unsicher ist. Mithilfe des EEG und neuerdings auch bildgebender Verfahren konnte unter Beteiligung Magdeburger Forscher nachgewiesen werden, dass Teile des Stirnhirns (der so genannte präfrontale Cortex, PFC, und der anteriore cinguläre Cortex, ACC) sowie der Hippocampus besonders dann aktiv sind, wenn in einer Reihe von Ereignissen etwas Überraschendes oder Unerwartetes eintritt, oder wenn Fehler und Abweichungen auftreten. Kürzlich konnten französische Forscher nachweisen, dass die Fähigkeit zum Rechnen nicht nur im Scheitellappen lokalisierbar ist, sondern dass die vier Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division mit unterschiedlichen Hirnaktivitäten einher gehen. Ebenso lässt sich bei Personen, die perfekt zwei Sprachen beherrschen, nachweisen, welches die Muttersprache ist und welches die erste Fremdsprache, da Mutter- und Fremdsprachenerwerb von teilweise unterschiedlichen Nervennetzen betrieben wird.
Besonders interessant sind die Untersuchungen, in denen den Versuchspersonen Wahrnehmungstäuschungen (Farb-, Größen-, Kontrast-, Bewegung- und Gestalttäuschungen usw.) gezeigt wurden. Mein Doktorand John Haynes konnte kürzlich in einem gemeinsamen Projekt mit Magdeburger Kollegen mithilfe einer Kombination von EEG und Magnetenzephalographie anhand einer Kontrasttäuschung zeigen, dass es Gebiete im visuellen Cortex gibt, die in ihrer Aktivität genau dem subjektiven Täuschungszustand der Versuchsperson entsprechen. Dies demonstriert, dass es zwischen der Ebene der neuronalen Aktivität und derjenigen der subjektiven Empfindung keine weitere Übersetzungs-Ebene gibt, wie sie Psychologen und Philosophen immer wieder postulierten. Vielmehr sieht es so aus, als gehe aus der Aktivität der so genannten assoziativen Hirnrinde unter bestimmten Bedingungen Bewusstsein direkt hervor.
Diese wenigen Beispiele aus einer großen Fülle von neuen Erkenntnissen zeigen: Zwischen bewussten Leistungen im Bereich des Wahrnehmens, Denkens, Erinnerns, Vorstellens und Fühlens- ebenso wie entsprechenden unbewussten Leistungen - auf der einen Seite und bestimmten Hirnprozessen auf der anderen gilt: einer bestimmten geistigen Leistung entspricht genau ein Hirnprozess, und jedem Hirnprozess entspricht höchstens eine geistige Leistung. Dies lässt zu, dass es Hirnprozesse gibt, die nicht mit bewussten geistigen Leistungen verbunden sind - das trifft für die allermeisten Hirnprozesse zu -, aber keinem Hirnprozess entspricht mehr als eine geistige Leistung (man nennt dies in der Mathematik eine injektive Abbildung). Diese Entsprechung findet sich je nach Funktion bei einzelnen Nervenzellen, kleinen Neuronenverbänden oder der gemeinsamen Tätigkeit vieler Zentren. Dabei muss neben allen technik- und methodenbedingten Schwierigkeiten bedacht werden, dass die individuellen Abweichungen zum Teil groß sind, z.B. was die Aktivität der linken oder rechten Großhirnrinde bei komplexen kognitiven Aufgaben, z.B. Musikhören, betrifft. Hier gibt es nicht nur genetisch bedingte, sondern auch übungsbedingte starke Unterschiede, z.B. zwischen einem ungeübten Musikhörer und einem Berufsmusiker: bei ersterem ist hauptsächlich die rechte Hemisphäre aktiv, während letzterer eher beide benutzt.
Diese Erkenntnisse schränken die Gültigkeit des dualistischen Glaubens an eine Eigenständigkeit des Geistes gegenüber dem Gehirn stark ein, denn sie bedeuten nichts anderes als: Geist ist ohne Gehirn nicht möglich! Allerdings wird ein versierter dualistischer Philosoph sich davon nicht sonderlich aus der Ruhe bringen lassen, sondern darauf hinweisen, dass diese Untersuchungen nichts weiter zeigen als reine Korrelationen, die bekanntlich nichts über die kausalen Beziehungen aussagen!
Man kann die Frage nach der Richtung der Kausalbeziehung zwischen Geist und Gehirn durch eine genaue Analyse der zeitlichen Beziehungen zwischen geistigen Zuständen und Gehirnprozessen entscheiden, sofern dies empirisch möglich ist. Treten geistige Prozesse stets vor den Gehirnprozessen auf, dann ist klar, dass sie diese in Gang setzen. Treten sie vollkommen gleichzeitig auf, ist auch nichts verloren, denn vom immateriellen Geist kann man verlangen, dass er verzögerungsfrei arbeitet. Folgen geistige Zustände hingegen stets in systematischer Weise bestimmten Hirnzuständen, so ist dies mit einer Eigenständigkeit des Geistes bzw. einer rein geistigen Kausalität unvereinbar.
Es lässt sich in der Tat experimentell zeigen, dass den bewussten geistigen Zuständen im Gehirn unbewusste Vorstufen zeitlich vorausgehen. Bei bewussten Wahrnehmungen wie dem Objektsehen dauert das Bewusstwerden eine Drittel bis eine halbe Sekunde, wie der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet schon vor vielen Jahren nachweisen konnte und wie dies heute im Zusammenhang mit der Messung evozierter und ereigniskorrelierter Potentiale Standardwissen ist. Zudem hängt das Bewusstwerden von einer minimalen zeitlichen Dauer der Reizung der Großhirnrinde ab, die bei ca. 100 Millisekunden liegt - alle kürzeren Reizungen werden nicht wahrgenommen, auch wenn sie unbewusst wirksam sind - , aber auch von einer minimalen Zahl von aktivierten Nervenzellen in der Großhirnrinde.
Man kann auch heute den Weg der visuellen Erregung von der Netzhaut über den Thalamus im Zwischenhirn und die vielen visuellen Zentren in der Großhirnrinde gut verfolgen, ehe das Gesehene bewusst wird, wie dies kürzlich Magdeburger Kollegen mithilfe einer Kombination von Magnetenzephalographie und funktioneller Kernspintomographie getan haben. Dabei zeigte sich, dass bei einer visuellen Wahrnehmung - wie zu erwarten - zuerst die primäre visuelle Rinde aktiviert wird, dann die assoziative visuelle Rinde, dann rückwirkend wieder die primäre visuelle Rinde, und dann erst wird das Gesehene bewusst. Ähnliches geschieht beim Entstehen von Gefühlen: Wenn etwas Bedrohliches plötzlich vor mir auftaucht, dann schrecke ich zusammen, erstarre oder mache Abwehrbewegungen oder laufe fort oder, ehe ich Furcht und Angst fühle. Die Erklärung hierfür ist, dass es einen kurzen Verarbeitungsweg vom Auge über das Zwischenhirn zum Mandelkern, der Amygdala, als Zentrum für das Erfassen von Bedrohlichem und das Auslösen von entsprechenden Reaktionen gibt, der völlig unbewusst arbeitet. Parallel dazu gibt es einen langen Weg, der vom Zwischenhirn zur Großhirnrinde läuft, dort Bewusstsein induziert und dann gegebenenfalls in das Geschehen in der Amygdala eingreift. Dasselbe ist auch bei der Bewegungssteuerung der Fall: Ehe ich den aktuellen Willen habe, meinen rechten Arm zu heben, haben die so genannten Basalganglien in Zusammenarbeit mit dem limbischen System und dem Kleinhirn in völlig unbewusster Weise diese Bewegung schon vorbereitet.
Dies wiederum bedeutet: Bewusste geistige Zustände entstehen in empirisch-experimentell erfassbarer Weise aus un- bzw. vorbewussten Zuständen. Bestimmte Zentren außerhalb der Großhirnrinde (insbesondere die so genannten neuromodulatorischen Systeme des Hirnstamms und des basalen Vorderhirns sowie limbische Zentren) müssen eine Zeitlang aktiv sein und die Großhirnrinde erregen, damit dort Bewusstseinszustände entstehen. Innerhalb der Großhirnrinde gibt es wiederum eine genaue Abfolge der Aktivität unterschiedlicher Areale. Damit ist in meinen Augen die Frage nach der Kausalität zwischen Gehirn und Geist eindeutig beantwortet: Unbewusste Hirnprozesse müssen ablaufen, bevor in voraussagbarer Weise Bewusstsein entsteht. Geist und Bewusstsein stellen besondere Zustände der Informationsverarbeitung dar, die vor allem dann auftreten, wenn das Gehirn mit Situationen konfrontiert ist, die hinreichend neuartig und komplex sind und für die das Gehirn noch keine Routineantworten parat hat. Dies ist insbesondere bei der längerfristigen Handlungsplanung der Fall sowie bei der höchst wichtigen Frage, was die anderen von mir wollen bzw. gegen mich planen.
Besonders wichtig ist die Tatsache, dass das Erzeugen bewusster geistiger Aktivität im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Konzentration, Problemlösen und dem Erlernen neuer Fähigkeiten außerordentlich viel Stoffwechselenergie verbraucht. Während das Gehirn insgesamt bereits ein sehr teures Körperorgan ist (es verbraucht zehnmal mehr Energie, als ihm von seinem Volumen her zustünde), ist der Energieverbrauch der Großhirnrinde bei bewussten geistigen Zuständen noch höher. Der Grund liegt darin, dass erhöhte geistige Aktivität erhöhte neuronale Aktivität im Zusammenhang mit der kurzfristigen Umverdrahtung von Nervennetzen im Cortex nach sich zieht und dass dies vermehrt Sauerstoff und Zucker verbraucht. Um diesen Bedarf auszugleichen, erhöht sich mit einer kurzen Verzögerung der lokale Blutfluss und schafft mehr Sauerstoff und Zucker herbei. Diese Zusammenhänge nutzen die bildgebenden Verfahren aus, insbesondere die funktionelle Kernspintomographie. Die Tatsache, dass unser Bewusstsein etwa im Sekundentakt, genauer zwischen 0,5 und 3 Sekunden, voranschreitet, hat nichts Metaphysisches an sich, sondern ist offenbar dadurch bedingt, dass die schnellen synaptischen Umbaumaßnahmen aus biochemischen und neurophysiologischen Gründen nicht schneller als zwischen 0,5 und drei Sekunden ablaufen können. Dies alles zeigt: Geistige Zustände sind mit bekannten physikalisch-chemisch-physiologischen Prozessen verbunden. Geist fügt sich in das natürliche Geschehen ein, er transzendiert dieses nicht.
Was aber ist mit den menschlichen Leistungen, die die Geistes- und Sozialwissenschaften als ausschließlich oder doch überwiegend gesellschaftlich determiniert ansehen, d.h. mit Intelligenz, Kreativität, Sprache, Handlungsplanung, Charakter und Persönlichkeit? Diese Leistungen können - so die häufig gemachte Aussage von Vertretern dieser Wissenschaften - doch nicht ihr genaues Hirnkorrelat haben, da sie ja in der Gesellschaft und nicht im Gehirn angesiedelt sind.
Dieser Standpunkt - so scheint mir - stellt einen tiefen Irrtum dar, denn er geht von einer falschen Gegenüberstellung von Gehirn und Gesellschaft aus. Wir Menschen sind in unseren charakteristischen Eigenschaften gesellschaftliche Wesen, und ohne die Gesellschaft anderer Menschen könnten wir längerfristig nicht existieren. Diese Gesellschaftlichkeit ist wesentlich eine Konsequenz unseres Gehirns, sie wurde im Laufe der Evolution tief in die Strukturen und Funktionen des menschlichen Gehirns eingegraben.
Dies lässt sich beim Studium der Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes und seines Gehirns zeigen, insbesondere was die Bindung des Neugeborenen an seine Mutter und die Ausbildung der Sprache betrifft. Schon vor der Geburt erlernt das Kind aufgrund angeborener Fähigkeiten den Klang und Duktus der Stimme der Mutter. Ebenso verfügt das Neugeborene über ein ganzes Repertoire an Verhaltensweisen und Tricks, mithilfe derer es die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Bezugsperson auf sich zieht und auf die die Mutter ebenso angeborenermaßen reagiert (man könnte fast sagen "darauf herein fällt"). Diese gegenseitige Prägungsphase ist außerordentlich wichtig für die weitere Entwicklung des Kindes, und deshalb sind Störungen dieser Mechanismen auf Seiten des Kindes oder der Mutter so verhängnisvoll. Es gibt inzwischen überzeugende Hinweise darauf, dass bei schweren Gewaltverbrechern und anderen völlig gefühlskalten Menschen (so genannten Soziopathen) solche frühkindlichen Störungen stattfanden.
Die Entwicklung der Sprache verläuft nach neueren Erkenntnissen bei allen Kindern dieser Welt gleich und in strenger Parallelität mit dem Ausreifen der Sprachzentren und des übrigen Gehirns. Genauso ist es mit der Herausbildung intellektueller Fähigkeiten, der verschiedenen Ich-Empfindungen und Persönlichkeitsstrukturen. Immer findet man, dass das Ausreifen bestimmter Hirnstrukturen das Primäre ist, dem die Ausbildung der entsprechenden Funktionen folgt. Dies zeigt sich deutlich bei der Entwicklung der für den Menschen typischen grammatikalisch-syntaktischen Sprache im Alter von rund zweieinhalb Jahren. Dies ist nämlich der Zeitpunkt, an dem das so genannte Broca-Sprachzentrum im Frontalhirn ein bestimmtes Maß an Feinverdrahtung erreicht hat. Ebenso hängt nach neueren Erkenntnissen die Tatsache, dass Jugendliche erst zum Abschluss der Pubertät zu einiger Vernunft und Selbstkontrolle kommen, mit dem endgültigen Ausreifen des über den Augen angesiedelten Teil des Stirnhirns, des orbitofrontalen Cortex, zu diesem Zeitpunkt zusammen.
In den letzten Jahren wurde begonnen, die neurobiologischen Grundlagen von Intelligenz und Kreativität zu erforschen. Auch hier zeigte sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen Intelligenz und Kreativität einerseits und Gehirn andererseits, die insbesondere Eigenschaften des Stirnhirns betreffen. Diese Eigenschaften sind teils angeboren (man schätzt zu 50%), teils frühkindlich geprägt (man schätzt zu 25%) oder werden durch spätere Erfahrungen beeinflusst (man schätzt zu 25%). Dasselbe scheint für all die Merkmale zu gelten, die man Charakter oder Persönlichkeit nennt. Die neue neurobiologische und entwicklungspsychologische Forschung stimmt im Gegensatz zu der noch herrschenden sozialwissenschaftlichen Lehrmeinung darin überein, dass die geistigen und emotionalen Grundzüge des menschlichen Charakters sich früh ausbilden und später nur noch in Grenzen veränderbar sind. Die Gesellschaft hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung dieser Merkmale (insbesondere in Form der Familie und der Peer-Groups), dies ist in größerem Ausmaß aber nur in den ersten drei bis fünf Lebensjahren der Fall, wenn man Pessimist ist, und in den ersten 7 - 10 Jahren, wenn man Optimist ist. Wie der Berliner Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf kürzlich herausgefunden hat, suchen sich die Menschen eher diejenige Umwelt aus, die zu ihnen passt, als dass sie sich einer Umwelt anpassen.
Dies alles bedeutet: Was der Mensch geistig und emotional ist, wie er fühlt, denkt und handelt, welche Werke er erschafft und welche Werte er anerkennt, all dies wird bedingt durch bestimmte Hirnstrukturen und Hirnfunktionen. Das Geistige des Menschen ist also ein Erzeugnis seines Gehirns. Dies gilt auch für seine Individualität und seine Geschichtlichkeit, die die traditionellen Geisteswissenschaften in das Zentrum ihrer Bemühungen gestellt haben, und es gilt auch, wie kurz dargestellt, für die gesellschaftliche Natur des Menschen. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, weil sein Gehirn ein gesellschaftliches Organ ist. Es stellt Fragen an die Gesellschaft, hört sich die möglichen Antworten an und entscheidet dann, welche davon es für seine weitere Entwicklung gebraucht. Nur in wenigen dramatischen Fällen zwingt sich die Umwelt dem Gehirn auf.
Heißt dies nun, dass der Mensch vollständig auf das Neuronale reduziert werden kann, wie manche Neurophilosophen wie Patricia und Paul Churchland behaupten? Werden die Geistes- und Sozialwissenschaften irgendwann einmal vollständig in die Neurowissenschaften aufgehen, da diese exaktere Beschreibungen der geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene liefern? Zumindest ist es diese Drohung eines umfassenden neurobiologischen Reduktionismus, den viele Geistes- und Sozialwissenschaftler fürchten.
Hierauf möchte ich zum Abschluss eine kurze Antwort geben: Eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Schönheit, wenn ich genau analysiert habe, wie Bach diese Fuge komponiert hat, und der Zustand der Verliebtheit verliert nichts - oder doch nur wenig - von seiner Einzigartigkeit, wenn der Betroffene die physiologischen Prozesse genau kennt, die dabei ablaufen. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass wir die vielen Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht hätten, wenn wir nicht zuvor über Kenntnis der geistigen und emotionalen Erlebniszustände verfügten. Wir wüssten nichts über die Rolle des orbitofrontalen Cortex, wenn wir nicht wüssten, was Handlungskontrolle, ethische und moralische Vorstellungen bedeuten und wie sie sich entwickeln, und wir wüssten nichts über die Rolle der Amygdala, wenn wir nicht am eigenen Leib erfahren hätten, was Furcht und Angst sind. Die Fülle der geistigen und emotionalen Erlebniszustände ist in diesem Sinne nicht auf neuronale Strukturen und Funktionen reduzierbar; aus der bloßen Kenntnis der Struktur und der Funktion der Amygdala folgt nicht die Erfahrung, was Furcht und Angst sind. Die Schönheit Bachscher Musik, die ich erfahre, ist nicht identisch mit dem Feuern von bestimmten Neuronen in meinem rechten Parietallappen und in limbischen Zentren, auch wenn dieses Feuern eine notwendige Bedingung für das Schönheitsempfinden ist.
In diesem Sinne kann man auf der einen Seite sagen, dass alles Geistige, Kulturelle und Gesellschaftliche durch die Eigenschaften der Gehirne der Menschen bedingt sind, und insofern wird die Hirnforschung die Basiswissenschaft für die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften werden. Andererseits werden diese Wissenschaftsbereiche nicht durch die Erkenntnisse der Hirnforschung überflüssig gemacht. Die Fülle geistiger, kultureller und sozialer Phänomene ist nicht auf das Neuronale in dem Sinne reduzierbar, dass man auf sie verzichten könnte, so wie man in der Chemie die Phlogiston-Theorie einfach gestrichen hat. Die Hirnforschung wird als Basiswissenschaft viele Phänomene der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften besser erklären helfen, aber sie wird sie nicht in ihrer Existenz bedrohen. Sie ist eine Brücke, die das verbindet, was zuvor als unverbindbar erschien.
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